Die entführte Braut (1938)
Sich in Situationen verordneter Immobilität Filme mit ordentlichen Tanzszenen reinzuziehen hat gewiß rekonvaleszenzfördernde Wirkung.
Etwa solche mit Rosy Barsony (1909—1977) im musikalisch durchdrungenen Film “Die entführte Braut” (“Roxy und ihr Wunderteam”), der im Januar 1938 erstmals — und zwar in Wien — vorgeführt wurde. Ein narrativ etwas exzentrischer (tja, Operette), sehr charmanter Film im Milieu des ungarischen National-Fußballteams. Es geht um Sport vs. Liebe, geografisch und kulturell zwischen Österreich und Ungarn. Der Balaton spielt eine Hauptrolle. Die jungen Männer (in hinreißenden Badeanzügen zu sehen!) müssen trainieren, junge Frauen unterminieren das und führen mit ihrer Präsenz zu allerlei Verwicklungen.
Fantastisch finde ich die Nummer ab 1:15, gerade auch wegen der Kombination aus Basanys sprühender Freude und überbordendem Bewegungsdrang mit der eine geschwellte Brust paradierenden Behäbigkeit ihres etwas gesetzteren Partners (ihr häufiger Bühnenpartner und Ehemann Oscar Dénes), gerade auch, weil hier Einiges an Choreographie und Ausführung unperfekt und ungelenk wirkt. Das fördert die Rekonvaleszenz gleich noch mehr.
Aktuell einsehbar (noch bis 11.5.2025) hier auf der fantastischen Website des fantastischen österreichischen Filmarchivs. Der Film, so heißt es, sei die letzte Produktion einer von jüdischen Filmschaffenden getragenen österreichisch-ungarischen Filmproduktion der 1930er Jahre und beruht auf Paul Abrahams Operette “Roxy und ihr Wunderteam”, die 1937 in Wien und Budapest aufgeführt worden war. Hier ein gut recherchierter Artikel von Angela Eder, der unter anderem sport- und sozialgeschichtliche Hintergründe (soziale Anerkennung des Fußballsports im Wien der 1930er Jahre, die sich auch anhand dieses Films zeigt), Details aus der zeitgenössischen Rezeption und die biografischen Verläufe der vielen jüdischen Darsteller*innen behandelt.
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Werkzeugspaß und Körperkalibrierung: vom Leben unmittelbar nach einer LWS-Operation
Der letzte Erfahrungsbeitrag mit Verhaltensanregungen für die Zeit nach einem chirurgischen Eingriff, Flüssig-breiige Ernährung im Anschluß an Kieferoperationen, ist den Zugriffszahlen nach zu schließen ein totaler Renner. Nicht, dass ich die geneigte Leserschaft mit Genesungsgedöns langweilen möchte, aber einige bescheidene Hinweise für die Erleichterung des Lebens im Anschluß an eine Operation der Lendenwirbelsäule könnten ja dann doch nützlich sein.
Nach einer LWS-OP soll eins die Wirbelsäule so gerade wie möglich halten und auf keinen Fall im LWS-Bereich beugen oder drehen. Becken und Schultern immer schön parallel halten. Die Schwierigkeiten, die eins damit haben kann, hängen von der individuellen Konstitution, Beweglichkeit und Körperbewußtheit ab, das also bitte mitbedenken. Aber umlernen wird eins auf jeden Fall müssen. Wie lange, hängt von der OP ab. Bei einer Transforaminal Lumbar Interbody Fusion (TLIF) — klingt geil, gell? —, die ich die Ehre hatte erleben zu dürfen, dauert’s länger mit der Vorsicht, bei einer einfachen Facettengelenkszysten-Entfernung, die ich letzes Jahr die Ehre hatte erleben zu dürfen, erfolgt der Übergang in sorglose Bewegung früher.
Meine erste Beobachtung dazu: in alltäglicher Umgebung ist die Einübung neuer Bewegungsmuster schwieriger. In der ohnehin fremden Umgebung eines Krankenhauses fällt es leichter, sich etwas anzutrainieren. Die Mobilisierung nach einer LWS-OP beginnt sehr früh, in der Regel bereits am Tag nach dem Eingriff. Ich würde diese Phase im Krankenhaus nützen, so viel wie möglich zu üben, damit sich Bewegungsmuster rasch einprägen.
Das sind im wesentlichen vier. Erstens, im Liegen das Drehen mit dem ganzen Körper, en bloc, auch dann, wenn eins nur etwas vom Nachtkästchen derglengen möchte. Zweitens, Aufsetzen aus dem Liegen immer über die Seitdrehung, Beine anwinkeln und runterfallen lassen und gleichzeitig mit den Armen seitwärts hochdrücken (das Gewicht der fallenden Beine als Anker nützen), dabei die Wirbelsäule so gerade wie möglich lassen. Drittens, Aufstehen und Hinsetzen mit geradem Rücken (Hände auf die Oberschenkel legen dabei hilft) und mit Hauptarbeit in den Oberschenkeln. Für diese drei Bewegungen geben Physiotherapeut*innen Anleitungen im Krankenhaus, es gibt auch zahlreiche PDFs und Videos auf Klink-Websites. Viertens, Drehbewegungen beim Herumgehen und -stehen immer mit dem ganzen Körper durchführen (wenn eine isolierte Kopfdrehung nicht ausreicht, die ist auch ok), und am besten mit angespanntem Unterbauch. Ich habe mir angewöhnt, diese Drehungen von den Füßen aus zu denken und anzugehen, dann setzt sich das von unten her logisch auch über Hüfte und Schultern durch. Die Drehung beginnt damit, dass die Füße initiativ werden. Der Reflex ist ja eher, den Kopf zu drehen und den Rest des Körpers so weit mitzuziehen wie nötig — dann ist eins aber schnell in der LWS-Drehung drin, das ist bäh.
Sich reflexhaftes Drehen überhaupt abzugewöhnen, ist schwer. Wenn zum Beispiel eine Person von hinten ruft (“kannst du mal kurz?”), oder wenn es unerwartete akustische Signale von hinten gibt (Amseln tuckern). Ich drehe mich da sofort neugierig um und mußte nunmehr feststellen, dass ich das viel zu gerne aus der LWS mache. Mir hilft bei der Vermeidung (zusätzlich zum Fußprinzip) die Strategie, so wenig wie möglich in solche Situationen zu kommen — also so gut es geht Umgebungen zu meiden, in denen Drehprovokationen wahrscheinlich sind. Eins soll ja viel gehen nach so einer OP, aber dann eben in möglichst reizarmen Umgebungen. Ich suche mir Wege, wo ich so wenige Straßenkreuzungen wie möglich passiere, und gehe zu Zeiten, da wenig Verkehr ist. (Mit kleinen Kindern stelle ich mir die Drehvermeidung übrigens sehr, sehr schwierig vor.) Und ich bewege mich vorwiegend so, dass die Amseln tendenziell vor mir tuckern. Nie der potenziell tuckernden Amsel den Rücken zukehren!
Wenn man sich im Sitzen drehen muß, so meinte die Physiotherapeutin, dann die Schulter so weit wie möglich isoliert drehen. Dieser Hinweis ist besonders bei Reinigungsvorgängen im Anschluß an einen sitzenden Toilettengang zu bedenken. Lachen Sie nicht, das sind häufige Bewegungen, bei denen man viel kaputt machen kann. Und wenn wir schon bei Körperpflege sind: Fürs Gesichtwaschen empfiehlt sich ein Waschlappen (ansonsten Beugegefahr!). Personen, die ansonsten die Verwendung eines Zahnputzbechers zugunsten behenden Beugens zum Wasserhahn verschmähen, wird temporäres Umdenken empfohlen. Der Zahnputzbecher ist der Freund des geraden Rückens.
Apropos beugen und drehen. Mit Ausfallschritt kommt eins bei einigermaßen beweglichen Hüften relativ weit runter gen Boden, ohne den Rücken zu beugen, aber de facto gibt es — von der Physiotherapeutin bestätigt — keine Möglichkeit, etwas vom Boden aufzuheben, ohne dabei den unteren Rücken zu verdrehen. Let that sink in, and don’t even try. Du kannst nichts selbst aufheben.
Gut, manches läßt sich vermeiden. Das kokette Hinabgleitenlassen von Gewändern zum Beispiel, machst du halt dann ein paar Wochen nicht. Dennoch: Mir war nicht bewußt, wie oft mir täglich was runterfällt, und wie viele Gegenstände meines Alltags, nun ja, einfach am Boden leben. Gelegentlich hebe ich Gegenstände mit den Zehen, warum nicht, Variation macht Spaß. Wenn Stabilität und Hüftbeweglichkeit mitspielen, läßt sich ein Gegenstand mit der Zehe bis zu den Fingern der gegenüberliegenden Hand transportieren, ohne dass sich die LWS biegt. Echt! Gegenstände können auch stufenweise gehoben werden: erst mit den Zehen auf eine Stufe oder einen niedrigen Tisch transferieren, von dort geht’s dann oft bereits mit rückenfreundlichen Beugetechniken aus der Hüfte und in den Knien.
Meist kommt aber doch die Greifzange zum Einsatz. Greifzange! Wort und Gegenstand wurden mir von der Physiotherapeutin im Krankenhaus ins Bewußtsein gerückt — I had no idea! Es gibt eine sehr beeindruckende Produktpalette an Greifzangen, für Menschen geeignet, die freiwillig, verordnet oder aus Notwendigkeit Müll aufsammeln, oder für Senior*innen. Auf einschlägigen Verkaufsplattformen werden Greifzangen stark nachgefragt und detailreich rezensiert. Das Produktdesign ist wohl nicht ganz zufällig oft dem einer Schußwaffe angeglichen, der Wasserpistolenspaßfaktor ist nicht zu leugnen. Manche Modelle wie das von mir erworbene haben Magneten vorne an den Armen, aber ich habe sie noch nie nötig gehabt; vielleicht eher ein Gimmickfaktor. Allzu schwere Gegenstände kann man mit Greifzangen nicht heben, aber so bis ein Kilogramm geht’s. Und es macht Spaß. Wie es ja oft bei guten Werkzeugen der Fall ist, entdeckt man ihren weiteren Nutzen auch erst im Gebrauch. Bislang zog ich immer den Stuhl heran, um in höher gelegene Küchenregale greifen zu können, jetzt erledigt die Greifzange 80% dieser Fälle viel komfortabler. Offenbarungen!
Socken und Schuhe anziehen, auch so eine Sache. Sockenhandling geht nur im Sitzen, sorry (ich bin sonst eingefleischte und stolze Sockenstehhandlerin, je nun). Was die Schuhe angeht: am besten schaut eins schon vorher drauf, Slipper zur Verfügung zu haben, dann müssen wenigstens keine Schuhbänder oder andere Verschlussformen manipuliert werden. Sehr empfehlen kann ich einen Teleskopschuhlöffel, mit dem auch im Stehen das Hineingleiten in Slipper mühelos gelingt. Es gibt auch einfach lange Schuhlöffel, ich fand die Teleskopkonstruktion aber attraktiver, weil sie à la longue flexiblere Einsatzmöglichkeiten hat. Schlapfen lösen das Problem natürlich auch, sind aber vermutlich nicht für alle aushäusigen Situationen geeignet.
Schon vor längerer Zeit erworben: ein schräg leicht verstellbaren Tisch für die Arbeit mit dem Laptop im Liegen, oder auch für die Ablage von irgendwas. Mit geeigneten Liegeflächen und Polstern ist sowas übrigens auch ein Segen für die Halswirbelsäule. Fürs Liegen am Rücken empfiehlt sich generell ein härteres, längliches Kissen für unter die Knie, da schnurrt das Wirbelsäulchen.
Eine größere und planvollere Investition ist ein elektrisch verstellbarer Lattenrost fürs Bett. Keine Altersscheu! Angesichts dessen, wie viel Zeit eins im Bett zubringt, so auf die Lebenszeit gerechnet, ist’s erstens nicht soo teuer (gute Matratze sowieso wichtig), und praktisch alles, was sich in Rückenlage erledigen läßt, läßt sich mit verstellbarem Lattenrost besser und bequemer erledigen. Beim Handling eines solchen Lattenrosts (gilt auch fürs Krankenhaus) postoperativ aufpassen, dass ie LWS nicht in eine zu stark gebeugte Position gerät, indem etwa Kopf- und Fußteil zugleich weit hochgefahren werden. Aber der Körper gibt da schon recht verläßlich Rückmeldung (aua). Wichtig ist auch daran zu denken, die Matratze wieder absolut flach zu stellen, wenn eins sich im Liegen auf die Seite dreht, denn eine seitliche Biegung der Wirbelsäule gilt es zu verhindern.
Prosecco und Disko für frisch Operierte
Die Transporteure im Krankenhaus, die Patient*innen vor Operationen in ihrem Bett zum und vom Operationssaal schieben, oder in Rollstühlen zu und von Untersuchungen. Kompakte, mitunter grobschlächtig wirkende und häufig tätowierte Männer, jovial im Umgang, geschult in der Kunst des alters- und geschlechtergerechten Kompliments, das je nach Disposition der komplimentierten Person bierernst schmeichlerisch oder mit einem Augenzwinkern vorgebracht wird, das eine Solidargemeinschaft des Die-Situation-persönlich-aber-nicht-ernst-Nehmens herstellt. Blutjung, jo, eh, sicher. Sie sind nervös, sagt der Transporteur zum OP im Aufzug dann überraschend leise und lapidar. Ja, ich bin nervös, sage ich. Das war alles. Atmen.
Beim Einschleusen in einem recht kleinen Raum dieses nicht allzu großen Krankenhauses eine Szene von berührender Würde. Der Transporteur erklärt, das OP-Hemd müsse nun ausgezogen werden (das ja hinten offen ist), er würde es oberhalb der Brust abstreifen, dabei achtet er auf die korrekte, Entblößung vermeidende Lage der Decke. Von rechts rollt ein anderer Transporteur die Bahre, oder wie immer das Ding heißt, auf dem sie dich in den OP rollen, heran. Die beiden Herren tauschen die Bettdecke gegen vorgewärmtes grünes OP-Tuch, wiederum sehr diskret entblößungsvermeidend. Der Körper wird ersucht, sich selbsttätig von Bett auf Bahre zu bewegen.
Im Vorraum zum OP-Saal muss noch ein Zugang gelegt werden, das macht die Anästhesistin. Es klappt an der ersten gewählten Stelle nicht gut; es schmerzt die Nadel. Im Saal selbst gelingt es dann an einer zweiten Stelle, doch die schmerzende Nadel wird nicht mehr entfernt. Das irritiert, denn dass es in dieser Atmosphäre, in der so vielen Werten, Regungen und Befindlichkeiten dieses Körpers so viel konzentrierte Aufmerksamkeit gewidmet wird, gerade darauf — so kurze Zeit vor dem Wegdämmern — nicht mehr ankommt, das ist, mit Verlaub, ein kleiner Sprung im Professionsporzellan. Während noch etwas Sauerstoff durch eine Maske administriert wird, äußert die Chirurgin, nach einem kurzen Gruß vollständig im konzentrierten Profimodus aufgegangen, den Wunsch nach bestimmten Rundpolstern auf dem OP-Tisch, auf den der Körper dann in Bauchlage gewuchtet werden wird, wenn das Bewusstsein stillgelegt ist. Ein Assistent hat bereits andere Rundpolster dort abgelegt und kommt ihr doch glatt mit einem “aber die haben wir bis jetzt immer genommen”. Ihre kurze Entgegnung “die anderen halten besser” wischt seine Bemerkungen, die inferioren Polster und allfällige Nervositäten weg.
Die offenen Augen erblicken zuerst eine Uhr an der Wand. Etwa vier Stunden sind vergangen, und das Bewusstsein ist sich dessen bewusst. Da ist die Chirurgin, mit ihrer sehr sanften und absolut überzeugenden Stimme, “alles gut gegangen”. Da bringt eine Schwester ein Funktelefon und fragt “sind Sie bereit für Ihren Gatten?”. Es wird viel gegattet und gegattint in diesem Aufwachraum. Es gibt Schläuche, die Flüssigkeiten zuführen, Schläuche, die Flüssigkeiten abführen, Verkabelungen zu Messgeräten. Ein leichtes Brennen im unteren Rücken. Schwindel, der geduldig und unbekümmert macht, der das Bewusstsein im herumliegenden Jetzt hält, sodass ihm dessen Ausdehnung in die Zukunft gleichgültig ist. Die Zukunft, sie wird noch fast 24 Stunden dauern, denn das Krankenhaussystem vermag sich hier im Aufwachraum besser und präziser mit dem Körper und seinen potenziellen Schmerzzuständen zu beschäftigen als im Krankenzimmer. Schwester A., in der zweiten Schicht, administriert weiteren Schwindel (leichtes Opioid), ich solle einfach denken, in einem Sitz zwei Gläser Prosecco runterg’stellt zu haben. Der Körper lacht. Ich hab ja eh nix zu tun, sag’ ich, da kommt’s auf den Schwindel wirklich nicht an.
Achtsamkeitsmeditationen beginnen häufig mit dem Hinweis darauf, es gäbe jetzt nichts zu tun, nichts zu leisten, keine Aufgabe. Die einzige Aufgabe im herumliegenden Schwindel ist Atmen. Die Sauerstoffsättigung im Blut wird über einen dünnen Schlauch hoch gehalten, der mit einem putzigen Schaumstoffplug im Nasenloch fixiert ist. Als man ihn probehalber entfernt, weil der Plug doch etwas unangenehm reibt, wird die Last auf den Lungen deutlich. Später, als man mir das Mobiltelefon vom Krankenzimmer geholt hat (toller Service) und sich das Bewusstsein mit sozialen Netzwerken vernetzt, kommt sofort ein Warnton, Sättigung unter 80. Der Körper kann noch nicht atmen, wenn sich das Bewusstsein vernetzt. Er bekommt von der ersten Schwesternschicht Wasser administriert, auf Zuruf, die zweite stellt dann schon die Wasserflasche zur Selbstbedienung ab. Der Körper macht Fortschritte.
Der Aufwachraum ist recht groß, L-förmig, und doch ziemlich geschäftig. Es werden andere hereingeschoben. Bei einigen ist die Rede davon, dass sie dann in einer halben oder ganzen Stunde nach Hause gehen könnten, aha. Anderen wird angekündigt, dass sie dann oder dann auf die Station kommen würden, soso. Alle wollen Wasser und kriegen zuerst nur Zitronenstaberln angeboten. Ärzte treten an Betten heran und informieren in konzentriertem Ton über Verlauf und Fortgang. Es lassen sich Wortfetzen ausmachen, Satzfetzen, Krankheitsbilder zusammensetzen, synthetische Operationen des Bewusstseins setzen ein. Das geht nun auch zusätzlich zum Atmen, ohne dass die Sättigung sinkt.
Das Bewusstsein sucht sich Ablenkung. Es versucht, die Schlitze in diesen Deckenplatten zu zählen, die ich später als “Dralldurchlass” zu bezeichnen lerne (danke, Internet). Es gelangt jedes Mal zu einer anderen Zahl und registriert konsequenzloses Scheitern. Es plaudert mit Schwester A., wenn sie etwas mehr Zeit hat. Bonding über biografische Parallelen: die Berufswahl von Frauen gegen Familienwünsche. Es bemerkt grüne, langsam wandernde Lichtpunkte an der Decke. Wirklich? Ja, sagt, Schwester A., sie hätten da so einen Sternenhimmel installiert. Das Bewusstsein reagiert mit einem Witz über Diskokugeln für frisch Operierte, zustandsadäquat geschwindigkeitsreduziert.
Es registriert widersprüchliche Impulse, Empathie einerseits, leichte Genervtheit andererseits, als der ältere Herr gegenüber unmittelbar nacheinander drei Pflegenden von seinem Oberschenkelschmerz berichtet und sie ihm alle sagen, er bräuchte bei den Schmerzmitteln bitte noch etwas Geduld, und, ja, ein Oberschenkelschmerz wäre bei seiner Art der Rückenoperation völlig im Rahmen. Der Herr wirkt ungehalten, will gehört, angehört, zugehört werden, da spricht sich ein Bedürfnis nach Aufmerksamkeit in einen Zustand hinein, in dem es nie und nimmer gestillt werden kann. Aber am Ende, als man ihn zurück ins Krankenzimmer rollt, bedankt er sich überschwänglich bei Schwester A. Er würde dem Krankenhaus einen Brief schreiben und extra die gute Behandlung im Aufwachraum hervorheben, ihre ganz besonders, wie hieße sie noch.
Gegen Mitternacht wird eine Frau hereingerollt, die soeben entbunden hat, das Bewusstsein erschließt einen Kaiserschnitt, der nicht geplant gewesen war. Es registriert überrascht, wie wach und kognitiv präzise die Frau beisammen ist. Der Vater kommt hinzu, noch eine Frau, sie setzen sich hinzu, und das Bewusstsein wundert sich etwas, dass all dies hier in diesem großen Raum stattfindet, aber es war ein Notfall. Es ist von Plazenta die Rede, von etwas, was sich noch ablösen müsse, dies aber, wie der hinzugekommene Arzt erklärt, von selbst tun würde. Als Arzt und Schwestern abtreten, nimmt das Gespräch juristischere Wendungen, es ist wohl etwas geschehen, was so nicht hätte geschehen sollen, es wurde eine Entscheidung getroffen, die die Mutter so nicht hätte treffen wollen, nichts Fatales, gewiss, denn Mutter und Neugeborenes sind wohlauf, aber vielleicht doch ein Behandlungsfehler in the making? Bevor das Bewusstsein sich zu sehr in Themen vergräbt, die es nichts angehen, erscheint Schwester A. mit einer Schlaftablette, gerade rechtzeitig, denn da ist das Bewusstsein müde und will sich stilllegen, aber der Körper, die Umgebungsreize, irgendwas, lässt es einfach nicht. Die Tablette führt in eine Dämmerung, immerhin. Dichte, plastische Bilder und Szenen, die sich nicht zu Träumen aufbauen wollen.
Sonatas and Interludes
Das Hotel lag in der Frankfurter Bahnhofsgegend, wo das Museum nicht lag. Das Museum lag in der rekonstruierten Neuen Altstadt, ein weithin gerühmter 150m-Langbau aus den 1980er Jahren, der sich jetzt ein Performance-Festival im ausnahmsweise hellen Galeriesaal gönnt, bevor zu Renovierungs- und Umbauzwecken für zwei, drei Jahre geschlossen wird. Die Eintrittsschlange samstags gegen 13 Uhr reichte ein Stockwerk hinab and then some. Das war schon, äh, interaktiver Teil der Performances, konkret bedingt durch Annika Ströms “Seven Women Standing in the Way”, zu dem es die folgende Anleitung gab:
“They should be above 65 years old.
They should not be dressed too formally. They should be wearing their coats or jackets and appear to be members of the audience.
They should be dressed casually and not be wearing high heels, as they will have to stand most of the time.
Whilst they are standing in the way, they should never appear aggressive, but simply ocivious to the fact that they are standing in the way. They should be completely oblivious to people around them.
They should be preoccupied with each other only, and the conversation they are having with each other.
If people want to pass, they should not give way at first, not until they appear to become aware that someone wants to pass, then they can make way, but they must never be aggressive about it.
They should stand together all the time, chatting and drinking. They can be loud, but they shouldn’t be too noisy, nor should they seek attention.
The performance should be very subtle. They should be standing all the time, but rest if they need to. However, when they do rest, they should all rest together.
If anyone asks them anything they should ignore the question, but if someone insists, they should reveal that they are a part of the show and that they are
The Seven Women Standing in the Way.”
Am schmalen Eingang in die Galerieräumlichkeiten standen also tatsächlich einige weißhaarige Damen, und sie verhielten sich tatsächlich den Richtlinien entsprechend, auf recht ruhige, lächelnde Weise. Die Besucher*innen schlängelten sich recht entspannt und langsam zwischen ihnen durch (wer von ihnen ahnte, wußte?). Erst nachdem ich den Text innen an der Galeriewand entdeckt hatte, formte sich dieses kurze, beiläufige Erlebnis zu einer Kunsterfahrung.
Ähnlich im Ansatz auch Alija Wysockas Performance “Hide and Seek” etwas später. Hier spielte eine Gruppe fröhlicher, bunt gekleideter Frauen aus der Ukraine, mittleren und höheren Alters, im Ausstellungsareal inmitten der anwachsenden Besucher*innenschar Verstecken. Sie liefen hin und her, versteckten sich hinter Menschen, Mauerwerk und Türen, und wenn die Suchende das Leo — ein an die Wand gekritzeltes Kreuz — verlassen hatte, rannten die Versteckten darauf zu und tappten dort jauchzend ab. Auch das ein Spiel mit Frauenkörpern, die etwas Gesellschaftliches, etwas Politisches, etwas Geopolitisches, wofür sie standen, in ein Raumszenario übersetzt darstellten, dadurch die anderen Anwesenden fordernd, in deren Rolle als Betrachter und Kontext zugleich.
Rundherum bewegten sich Personen in weißen Schutzanzügen, die als Teil von Norma Jeanes “Antibodies” in der Galerie überall Staub aufkehrten und aufsammelten. Dies taten sie nicht nur aktuell, denn da lag bereits ein offenbar über Monate hinweg gesammelter, recht beeindruckender Wollmäusehaufen von skulpturaler Anmutung (die Schirn hat im übrigen sehr schöne Holzbesen und -bartwische, auf denen groß “SCHIRN” steht). Man konnte sich fast als Virus fühlen, auf das die kehrenden Antikörper angesetzt wurden (der Staub ist ja schließlich auch Besucherstaub), als kleines bewegliches Störelement in einem multisystemischen Organismus.
In Ana Prvačkis “Tent, Quartet, Bows and Elbows” (Link mit Video), das bereits 2007 aufgeführt worden war, spielte ein Streichquartett prononciert Atonales in einem geschlossenen weißen Zelt inmitten des Galerieraums. Die Zuschauer*innen hatten sich vor Beginn auf bereitgestellten Papphockern um das Zelt gruppiert, dahinter standen gedrängt die, die keine Hocker mehr ergattert hatten. Eine Museumsmitarbeiterin brach die Konstellation geschickt auf, indem sie erstens darauf hinwies, dass dies eine zu ergehende, zu umgehende architektonische Performance sei, und dies zweitens gleich selbst zu performieren begann. Bald umrundeten mehrere das Zelt. Und immer, wenn eine länger stehenblieb, um einen Ellenbogen oder einen Instrumententeil, der gerade besonders rhythmisch herausragte, zu filmen, lief die Museumsmitarbeiterin stracks durch Bild und verdarb klug das Aufnehmen, das lähmend wirkte. Viele schätzten vor allem die an einer Ecke durch den Stoff sichtbare rechte Schulter einer Streicherin, über die konturierend schwarzes langes Haar fiel. Das ruckartige Spiel der Ellbogen an den Bögen sorgte für schön anzusehende Ausbuchtungen, das Zelt zuckte und wogte. Es muß da drin recht heiß geworden sein. Begeisterter, lachender Applaus am Ende.
Weit weniger verschmitzt Isaac Chong Wais Falling Reversely. Fünf offenbar professionell ausgebildete Tänzer*innen in Straßenkleidung vollführten Bewegungen, in deren Zentrum die Umkehr des Fallens stand, “as a powerful response to institutional violence and assaults against individurals of Asian descent”. Bemerkenswerte Körperstudien über das Fallen und Geworfenwerden, das Aufstehen, Aufspringen und Hochgezogenwerden (von nicht sichbaren Kräften), aber auch das Einander-Halten, -Heben und -Tragen, den Gewinn von Solidarität in einer Situation der Bedrohung.
Der kleine ca. Zweijährige im Skelett-Shirt, der am einen Ende der Performancefläche (viele Zuschauende saßen am Boden) mit einem Schlüsselbund und seinem leeren Trinkbrecher am Boden trommelte, bot der Szene Kontrast, die trotz der vielen Bewegung eine starre Gestimmtheit transportierte, vor allem durch ernsthafte Mienen und starre Blicke (mir kam der Verdacht, dass sehr gute Tänzer*innen nicht eo ipso geeignete Schauspieler*innen wären). Kontrast bot auch das Paar, das mir gegenüber saß: sie, mit braunen langen Haaren und offenem Gesicht am Papphocker mit gespreizten Beinen, er, hoher Haaransatz und fuchsfarbene Bartstoppel, am Boden dazwischen, sie berührten einander immer und immer wieder etwas mehr. Sie flüsterte ihm Dinge ins Ohr, die ihn glücklich lächeln ließen.
Ein Höhepunkt die Performance von Lenio Kaklea, “Sonatas und Interludes”, abends, eine Aufführung von und Auseinandersetzung mit John Cages so benannten Kompositionen. Das Klavier stand bereits den ganzen Tag präpariert in der Gegend herum. Orlando Bass spielte; er zeigte sich als nicht gefälliger, dicklicher Körper, in wohl bewußt zu eng gewählter Kleidung, schwarzer Hose, weißes T-Shirt, weiße Socken, keine Schuhe. Rückenhaar, das sich leicht pelzig über dem Halsausschnitt zeigte, schütteres Haupthaar, Nerdbrille. (Viel ungeglätteter als die Bilder auf seiner Website also.) Lenio Kaklea erschien in einem schwarzen Lederanzug mit Beplattung an Rücken, Ellbogen und Knien, was ihr eine leicht insektenartige Anmutung verlieh. Eine kraftvolle, strenge und grazile Erscheinung.
Die “Sonatas and Interludes” wurden zwischen 1946 und 1948 komponiert, als Ausdruck der rasa der indischen Ästhetik (mit der Cage wohl über die indische Musikerin Gita Sarabhai und das Werk von Ananda Coomaraswamy bekannt wurde; Wikipedia sagt Einiges dazu). Kaklea, so erzählt sie, wäre mit einer Choreografie zu Cages Komposition beauftragt worden, was sie anfänglich abgelehnt hätte, es wäre wirklich nicht ihre Art von Musik gewesen, sagt sie mit “alter weißer Mann”-Vibes in der Stimme.
Dann hätte sie recherchiert und wäre auf Verbindungen der “Sonatas und Interludes” und Cages generell zum Tanz gestoßen. (Zu den Verbindungen zu indischer Ästhetik sagt sie nichts.) Cage hätte immer wieder mit Choreografinnen gearbeitet, zumeist “racial ones” (Syvilla Fort, Pearl Primus, Valerie Bettis, Hanya Holm ). Sein erstes Stück für präpariertes Klavier, Bacchanale, entstand 1938—1940, als ihn die afroamerikanische Choreographin Syvilla Fort (1917—1975) um afrikanisch “inflektierte” Begleitmusik zu einer ihrer Choreographien bat (beide waren an der Cornish School beschäftigt). Die Methode der Präparierung des Klaviers durch Anbringung verschiedener Objekte zwischen den Saiten war den beengten räumlichen Verhältnissen im avisierten Aufführungsraum geschuldet, da Cage ein Stück für ein Perkussionsensemble schreiben wollte, wofür aber schlicht zu wenig Platz war (Quelle). Kaklea, so führt sie aus, wolle die weniger beachtete Dimension von Cage, seine Zusammenarbeit mit afroamerikanischen Choreografinnen, beleuchten, bearbeiten. “John Cage’s music will be in my service today” sagt sie, bestimmt, mit einem Unterton von abschätzigem Zorn. Den Beginn der Choreografie sieht man übrigens hier, aus 2023.
Die Choreografie zu den von Bass sehr souverän, aber auch eigenwillig gespielten “Sonatas and Interludes” (die Fünfer, die ich besonders gerne mag, erkannte ich kaum wieder) verhält sich dann zur Komposition auch immer wieder leicht bis offensiv mokierend, trotzig und rotzig. Dabei ist es, denke ich, schwierig, sich diese Art von Musik als Tänzerin zur Begleitung zu machen, weil sie sich mit ihrer besonderen Tonalität so in den Vordergrund drängt, dass Bewegungen, zumal so phrasierte, abgehackte wie jene Kakleas, umgekehrt leicht zur Begleitung der Komposition werden und ihr gegenüber untergeordnet wirken — wogegen Kaklea ja gerade rebelliert. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, glaube ich fast, sie hat auch mit dieser Unmöglichkeit gespielt, wollte sie zeigen, ein Ringen der Bewegung mit der Musik vorführen. Dazu passt auch der Insektenkörper.
Trotzig und rotzig: Sie kriecht auf eine Videokamera zu, die an einer Ecke der Aufführungsfläche am Boden positioniert ist, schaltet sie ein, ihr Gesicht erscheint groß auf die Wand projiziert. Sie schneidet Grimassen, ein freches fuck you der Musik gegenüber aus jeder ihrer riesig sichtbaren Schweißperlen.
Ihr Körper spielt sich dort dann ganz in den Vordergrund, wo er sich auf Motive der Präsenz weiblicher Körper in Kultur, Tanz und Film generell bezieht: das Ballett, in Figuren noch im ledrigen Insektenkampfanzer stets eckig geratend, der Striptease, der Stück für Stück verteilt über das ganze Stück stattfindet. Sie ist dabei sehr spielerisch, läßt unter den schwarzen Lederteilen den knallroten Leotard aufblitzen, zieht die gern verrutschende Lederhose trotzig über ihr rot glänzendes Gesäß wieder hoch, bevor sie sie irgendwann ganz abstößt.
Auch mit Orlando Bass wird gespielt. Kaklea zieht an Schnüren die Videokamera vom Rand in die Mitte, hin zum Klavier, bis ein Bild seiner weißen Socken (auf den Klavierpedalen) riesengroß an der Wand erscheint und den Rest der Performance begleitet. Die zunehmende Nacktheit der Frau zu den riesigen weißen Socken des weißen Pianisten, das ist stimmig. Noch im Leotard mit schwarzen Schienbeinschützern legt sie sich auf den Rücken unter die Klavierbank, ihren Blick ruhig und unverwandt dorthin gerichtet, wo man das Gemächt des Pianisten vermuten darf, durch die Sitzfläche ihrem Blick verborgen. Das Spiel läuft eine Zeit vom Band weiter, beide stehen auf, es folgen gemeinsame Bewegungen, bei denen sie seine Kreise stört, der weiche Körper des Pianisten und der muskulöse Körper der Tänzerin, sie stellen etwas dar und sind gleichzeitig, das spürt man, miteinander als Künstler*innen vertraut.
Dann, später, zieht sie auch den Leotard noch aus. Erst zeigt sie uns mit einer Geste des Stolzes und der Anklage zugleich ihre nackten Brüste (eine Aufforderung hinzusehen bei gleichzeitiger Gnackwatsche für unseren Voyeurismus). Dann ist sie nur noch mit einer glänzenden hautfarbenen Strumpfhose bekleidet, unter der sich in ihrem Schritt der dunkle Schatten von Schamhaaren zeigt, den sie diskret durch gekreuzte Beine verbirgt, sich im Zustand der fast vollkommenen Nacktheit gegenüber dem Publikum auf eine berührende Verletzlichkeit zurückziehend. Ich mochte, wie sie es zustande brachte, in ein- und derselben Geste, Position oder Bewegung mehrere Impulse auszudrücken, das schien mir zu den Sonatas and Interludes denn auch sehr passend. Es kam dann noch zu einem Negroni Sbagliato und, irgendwo in der Frankfurter Innenstadt, dem besten Ayran meines bisherigen Lebens.
comment [1]
Weird and radical projects
(Mainz, Frankfurt, 26.-30.3. Soundempfehlung: Warp Bleep Era Tribute Mix)
comment [1]
Die kurzen Momente, in denen du schwebst
Im “Heimatsaal” im Volkskundemuseum, der nicht erst seit der neuen, einschlägig politisch verorteten steirischen Landesregierung so heißt (Graz hat eine kommunistische Bürgermeisterin), erzählt Suzanne Ciani im Gespräch mit Shilla Strelka von ihrer Musik und ihrer Laufbahn. Man kann das Gespräch auch nachhören. Es ist ein sehr angenehmes Gespräch; Ciani spricht ruhig, gewählt, überlegt.
Sie spricht viel von ihrem Instrument, dem Buchla, von dessen Veränderung seit den 1970er Jahren, von Don Buchla, den sie als Erfinder und Konstrukteur dieses modular electronic music instrument preist (er hätte das Wort “synthesizer” gehasst), auch wenn er sie persönlich als junge Frau erst einmal sofort rauswerfen wollte, als sie bei ihm zu arbeiten begann. Ein evil genius, sagt sie. Sie erzählt von Kalifornien in den 1970er Jahren als Umgebung für Musik, als politisierte Umgebung. Sie spricht von ihrem Zugang zu Musik, der im wesentlichen ein emotionaler wäre, von einer Reaktion auf eine damals empfundene Überkomplexität akademischen Komponierens. Reaktion, Konfrontation: auch ihre, als Frau, die komponieren will, auf Kompositionslehrer, die Frauen die Fähigkeit zur Komposition absprechen, weil sie nichts Langes komponieren könnten. Sie spricht demgegenüber von ihrer Faszination am microcosm of sound, davon, dass für sie eine Komposition einer Drittelsekunde (Telefonton) durchaus Anfang, Mitte und Ende haben könne.
Sie spricht von elektronischen Instrumenten, davon, wie sie erfordern, dass du Klänge analysierst, auseinandernimmst, zu etwas zusammensetzt. Für sie: eine Poesie. Auch: eine Sicherheit, die dir die Maschine, der Synthesizer gab, Langsamkeit zu können, das hätten Menschen eben einfach nicht gekonnt. Die Schwierigkeit, Geld für ihr erstes Album aufzutreiben (there were no albums from female composers), so kam sie dazu, Klänge für Werbespots zu produzieren. Der berühmte Coca-Cola-Ton bewusst unmelodisch, da sie einen Klang wollte, den die Firma nicht nur in einem besonderen Spot einsetzen konnte — von einem universell einsetzbaren Klang erhoffte sie sich schlicht höhrere Einkünfte, die Finanzierung ihres Albums, das dann letztlich in Japan erschien.
Der Umgang mit der Maschine, die regelgeleitet ist, in Form von Kenntnis erfordernden Anweisungen; das Interessante beginnt dort, wo Zufälligkeit entsteht. randomness. Die Unvorhersehbarkeit der Maschine, an der sie auch nach so vielen Jahrzehnten noch Neues entdecken, kennenlernen würde. Sie spricht von buchlaistic techniques, ähnlich, wie es pianistic oder violinistic techniques gäbe. Die Steuerung des Buchla über “voltages”. Sie hatte füher den 200er gespielt, ihre Rückkehr brachte sie zum 200 E, mit dem sie plötzlich Dinge nicht mehr tun konnte, die früher möglich waren. Mehrfach betont sie, technologische Entwicklung würde nicht alles zum Besseren wenden; es würden auch Möglichkeiten verlorgen gehen. Ausführungen über Klang, Musik und Raum, das Verhältnis zwischen dem Design eines elektronischen Instruments und seiner kreativen Verwendung. Das Design von Eurorack-Synthesizern (keine Lichter ursprünglich, also kein Feedback-Mechanismus; alles viel zu klein für Menschen mit größeren Händen). Sie steht auf die Animoog-App. Die Wichtigkeit der Performanz. Instrumente müssten unter dem Aspekt der performability gestaltet werden, denkt sie.
Der Grazer Schloßberg ist durchlöchert. “Schloßbergstollen” nennt man das. Ein erster kurzer Stollen wurde 1937 errichtet, motiviert durch den Wunsch nach Luftschutzbunkern. Das heute existierende Raum- und Tunnelsystem mit insgesamt 6.300 Metern Stollen und ursprünglich 20 Eingängen geht auf eine nationalsozialistische Großinitiative 1943 zurück (Wehrmacht, Häftlinge, Kriegsgefangene). Sprengungen, Grabungen, das Aushubmaterial in die Mur geschüttet. Fast zwei Wochen nach meinem Ausflug nach Graz treffe ich E., fast 90, der in Graz aufgewachsen ist und den Schloßberg fest aus Angstsituationen in Erinnerung hat, immer die Bomben im Ohr, wenn er später dazu kam, sich dem touristisch entwickelten Berg zu nähern.
Seit Kriegsende ein unüberblickbarer Diskussionsprozeß über die Nutzung des Berges, utopische Tiefgaragenprojekte der 1960er und 1970er Jahre, Architekturvisionen, Museumspläne, 1999 dann in wenigen Tagen Sprengungen von 6.000 Kubikmeter Gestein zur Errichtung der Veranstaltungshalle “Dom im Berg”. Auch aus den frühen 2000er Jahren stammt der Lift, der vom Schloßbergstollen zum Uhrturm führt. Es gibt ein (geschlossenes) Montan- und Werksbahnmuseum, es gibt eine Märchenbahn. Es gibt eine Rutsche, die als Metallschlauch gewunden durch den Schacht bergab führt, der auch den Aufzug beherbergt.
Ein Tunnel mit felsig belassenen Wänden führt von der etwas höher gelegenen Innenstadt durch den Berg zum Murufer (Murufer ist ein großartiges Wort). Man geht auf leicht abschüssigen Metallgittern, bei schummrig rosa Licht mit Geisterbahnfaktor. Abzweigungen führen zu vom Weg aus einsehbaren Nischenräumen (ursprünglich gewiß Luftschutzbunker) mit verglasten Eingängen, dort gerade Lichtartefakte sichtbar im Rahmen einer Festival-Ausstellung. Über den Märchenbahnstollen gelant man zum Schloßberglift (genau gesagt zwei Lifte nebeneinander). Suzanne Cianis Soundinstallation in der gläsernen Liftkabine ist ein kleines, pulsierendes Musikfragment, das die Fahrt durch den Berg begleitet, vorbei an den Rutschenschlingen. Sie hat dafür ein älteres Stück auf dem frühen Buchla gewählt, in dem das Instrument singt, das Instrument als Verwandter des Lifts, sie sind Teil derselben Familie; ein Stück für die kurzen Momente, in denen du schwebst.
Die Kombüse im Stadtpark: ein Rundpavillon, darin eine Bar mit kleiner Tanzfläche, in das eine Eck der Bar ein recht gemütlich wirkendes DJ-Eck, wo an diesem Tag zwei junge Männer tätig sind. Guter, gemütlich treibender Sound. Schummrigkeit, die meisten Gäste stehen vor der Tür und rauchen. Pommes frites werden zubereitet und serviert. Ein gemütlich treibender Wohlfühlort. Nachts durch den Stadtpark spaziert, erst da die Erinnerung: Es muß ziemlich genau vor vierzig Jahren gewesen sein, in familienentfernten Osterferien in Graz, Herumlungern im Stadtpark, so, wie zu jener Zeit in Wien im Burggarten herumgelungert wurde, mit Tagen ohne Ziel und Gesprächen ohne Zweck. Eine Form des Driftens, wenn auch nicht die, die ich am reizvollsten fand.
Später, vor Cianis Konzert gegen zehn, gehe ich den Weg durch den Tunnel noch einmal, komme hinter drei jungen Männern zu stehen, von denen einer die beiden anderen fotografiert, die etwas weiter entfernt im Tunnel Spaß haben. Er dirigiert sie, auf Englisch, fordert sie auf, sich zu küssen, das könnten sie ja so schön. Da bemerkt mich einer der beiden hinter dem Fotografen stehen und bedeutet ihm, mich vorbeizulassen. Ich winke ab, “no, don’t mind me, I find this very entertaining”. Daraufhin wollen sie ein Foto mit mir, der eine kniet sich theatralisch vor mich hin und überreicht mir eine Plastikblume, ich meinerseits halte theatralisch meine Hand ans Herz, Foto. Wir haben Spaß. Die Plastikblume darf ich behalten, sie wird später in der Hektik der Garderobenhandhabung diskret aus meiner Jackentasche verschwinden.
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Männergenerationen, am Land
Die Eltern hatten aus rein pragmatischen Gründen geheiratet. Der Vater hatte einen Wagnerbetrieb, den er dem jungen Mann aus dem Nachbardorf versprach, wenn er seine Tochter heiraten würde. So geschah es. Das Haus war klein, mitten im Dorf, nahe der Kirche, wo sich ein Bauernhof an den anderen drängte. Eine große Küche, später mit Schwarzweißfernseher oben an der Wand in der Ecke, ein Zimmer für die beiden Söhne rechts, das Elternschlafzimmer links, WC und Bad draußen im Flur, immerhin abgetrennt, vom Flur aus der Eingang in ein weiteres Zimmer, für ihre Mutter, die dort immer saß und dann später lag, krank, länger. Ein kleiner Stall mit drei Kühen und ein paar Schweinen, eine Scheune für Heu und Stroh, ein Werkstattgebäude, ein Holzschuppen für Brennholz, ein Keller, in dem der angeheiratete Wagner gerne ein Bier trank — so erzählte es B., die Enkelin, die später gern mit ihm in den Keller ging, denn für sie gab es immer eine Schartner Bombe.
Die beiden Söhne des Schartner-Bombe-Opas, nennen wir sie A. und M., absolvierten Handwerkslehren, in ziemlich weit entfernten Städten, aber im selben Bundesland. So wurden sie schon früh zu Wochenendpendlern, die damals, in den 1970er Jahren, gut vier Stunden für die rund 130 Kilometer brauchten, weil die öffentlichen Verkehrsmittel miserabel waren. Der Vater baute den Wagnerbetrieb geschickt aus und erweiterte ihn um die Zimmerei. Er baute Jägerzäune und erfand und baute eine eigene Maschine, mit der die Stämme für die Sprossen in Form geschnitten wurden. Diese Automatisierung brachte ihm viel an Arbeitsersparnis und wohl auch mehr Geld. Der Schwerpunkt des Betriebes verlagerte sich in Richtung Holz.
A., der jüngere der beiden Söhne, der eigentlich Mechaniker gelernt hatte, sattelte auf Tischler um. Möbeltischler; wenn er von Wien spricht, erzählt er immer wieder von Aufträgen, die er auch dort hatte, gut 150 Kilometer vom Dorf entfernt. Später, als ich nicht mehr dort wohnte, bauten A. und seine Frau ein neues, großes Haus, unweit des Elternhauses im Dorf, das ebenfalls umgebaut und erweitert wurde. Heute hat A. eine Photovoltaikanlage auf dem Dach. Er fährt mit einer “Elektroschüssel” und verdient im Sommer ein paar Tausend Euro mit der Einspeisung von Strom. Aber amortisieren würde sich das nicht, sagt der kritische Mann von der B., die A.s Nichte ist. A. lächelt – er lächelt so leise und verschmitzt wie sein Vater -, “a bisserl a Idealismus g’heat scho dazua”. Außerdem würde man für so viel Blödsinn Geld raushauen, da könnte man doch auch was für was G’scheit’s ausgeben. A. und sein Bruder M. lernten früh Autofahren und hatten dann auch bald Autos. Der Vater machte zeitgleich mit M. den Führerschein, da war er schon 40, Mitte der 1970er Jahre.
Erst dann wurde die Familie etwas mobiler. Reisen, das kannten sie vorher nicht und haben es sich auch nie so recht angewöhnt. Die Mutter arbeitete als Haushälterin bei meinem Vater, mehr als 20 Jahre lang. A. und M. haben beide in ihrer Jugend kleine Jobs für meine Eltern gemacht, Telefondienst, Rasen mähen und so weiter. Für mich ist die soziale und wirtschaftliche Hierarchie, die dieser Beziehung zugrunde liegt, unangenehm, trotz oder vielleicht gerade wegen all der Herzlichkeit, die ich von dieser Familie immer erfahren habe. Ich war oft bei ihnen zu Gast, übernachtete, wenn meine Eltern für einen Abend ausgingen, war dort manchmal auch für einige Wochen, wenn meine Eltern reisten. Es war anders dort.
Es gab abends grobe Wurst oder Speck und Brot und Ketchup, auf dünnen Resopal-Schneidbrettern, oder Stossuppe, eine einfache Suppe aus Wasser, Sauermilch, Mehl und Kümmel, mit Brotstücken und Kartoffeln drin. Wie man sich wusch, in einem Lavoir in der Küche, mit begrenzten Mengen warmen Wassers, die Füße und die sichtbaren Teile des Körpers. Der Vater hatte sein eigenes Fußbadewasser, das immer pechschwarz wurde, die Mutter und ich teilten das Fußbadewasser, sowas gab es bei uns zu Hause nicht. Wir hatten eine kleine Küche, ein abgetrenntes Wohnzimmer, da bot es sich schon räumlich nicht an, beim Fernsehen die Füße zu baden.
Die Feldarbeit, zu der sie mich oft mitnahmen, war für mich ein Abenteuer, das Sitzen auf dem Traktor, auf dem Kotflügel, das Festhalten an den metallenen Geländern, das Rütteln, wie die Haut an den Händen weich und warm wurde von den vibrierenden Geländern. Sie hätten mich ja einmal versehentlich vom (stehenden) Anhänger gestoßen, gestehen A. und M., sie hätten da eine größere Ladung Heu raufgeschaufelt, und ich kleiner G’steamel sei einfach hinten runtergefallen. Da hätten sie sich schon große Sorgen gemacht, ob mir was passiert sei (war es nicht). Daran erinnere ich mich nicht, wohl aber an den grünen Schnürlsamthut des Vaters, an seine billigen, starken Zigaretten der Marke “Hobby”, an denen ich als Kind den einen oder anderen Zug nehmen durfte, so wie ich den einen oder anderen Schluck Bier bekam. Heimlich natürlich. Er war ein ruhiger Mann, ein oft müder Mann, ein zarter Mann, der auffiel in einem Ort, in einer Zeit, wo die Männer so laut waren. Er trank nicht so viel. Das eine Bier im Keller.
A. und M., sie drücken heute Dankbarkeit aus, weil ihnen die kleinen Jobs für meine Eltern Dinge ermöglicht hätten, die sie sich sonst nicht hätten leisten können. Sie seien auch dankbar dafür, dass meine Mutter sie mitgenommen hat, wenn es ins weiter entfernte Hallenbad ging oder zum ebenfalls weiter entfernten Skilift, zu einem Tagesausflug. (Mir bleibt das trotzdem unangenehm.) A. und M. blieben beide im Ort, mit Frauen, die aus anderen Orten zu ihnen zogen. Es waren keine pragmatischen Ehen mehr. M. arbeitete als LKW- und Baggerfahrer für Firmen anderswo und war über lange Zeit Wochenendpendler (mit eigenem Auto). Kinder wurden geboren. So, wie es Fotos von A. und M. gibt, die sie als Teenager mit mir als Baby oder Kleinkind zeigen, so gibt es von mir Fotos, auf denen ich als Teenager B., die Tochter von M., als Baby halte.
Einer von A.s Söhnen hat den Tischlereibetrieb von A. übernommen. Andere der Kinder sind weggezogen. Es gibt viele Enkelkinder. Es gab Scheidungen bei A. und M. und neue Beziehungen mit dann quasi adoptierten Enkelkindern. B., die mit einem Mann aus dem Ort zusammenkam und mit ihm heute woanders lebt, erzählt von Flugreisen, Hamburg, Stockholm, auch Thailand. A. erzählt von Bergen und Seen im Salzburger Land. Er würde gern wohin fahren oder gehen, wo niemand ist, und sich dort einfach hinsetzen, eine halbe Stunde oder länger. Er würde da gerne auf den einen Berg gehen, da war er oft, aber jetzt mit dem vierjährigen Enkerl, naja, des geht grad ned so. Es ist vielleicht auch das Alter, dessentwegen es ned mehr so geht, aber darüber sprechen wir nicht.
Wir reden über Essen in asiatischen Ländern, Streetfood in Thailand, rohen Fisch in Japan, der Witz mit den Leberkässemmerln als österreichisches Sushi schwebt über dem lachenden Wirtshaustisch (A. und M.: Tafelspitz, B.s Mann: Beef Tartar, B. und ich: Lachsforelle). Das Höchste für das Enkerl, erzählt A. mit einem unglaublich zarten Lächeln und strahlenden Augen, sei es, mit ihm, dem Opa, frühstücken zu gehen. Um sechs Uhr morgens gingen sie dann durch das ganze Dorf zur Tankstelle am Ortseingang, die schon immer eine Art Gemischtwarenladen war, und dort wolle er, das Enkerl, zu seinem Semmerl eine einzige, eine dünne Scheibe Leberkäs.
Nie weit weg, aber doch immer woanders
Ein Lokal in Döbling, das in Hamburg war, an einer Bahntrasse, in die S-Bahn-Station eingebaut. Das ziegelige Gebäude ging endlos nach oben, mit Nischen voller gotischer Gnome. Weiter herunten, in Reichweite, hatte jemand spaßhalber so Witz-Insignien des Gruselns hinzugefügt. Totenköpfe, stilisierte Spinnweben. Das Lokal, das eher ein Trinklokal war, wurde von älteren Damen geführt, die ihre Gäste leicht übersahen. Eine bot zum Mineralwasser, das ich bestellte, selbst gemachten Kuchen an, der grün war, eine Art Malakofftorte aus Grünsein. Eine Wohnung, in der viel herumlag. Sie war meine, aber ich wohnte nicht mehr da, und war gleichzeitig die einer älteren Verwandten, die auch nicht mehr da wohnte. T-Shirts in fifty shades of purple.
Ich hatte immer genau noch eine Viertelstunde Zeit, bevor ich gehen mußte, bis ich gehen mußte, um wenigstens nur eine Viertelstunde zu spät zur Nachhilfestunde zu kommen, die ich geben sollte. Ich traf einen, den ich erst später treffen wollte, aber wir trafen uns schon jetzt, kurz, weil wir uns lange nicht gesehen hatten. Er war nie weit weg, aber doch immer woanders, führte kurz ein Gespräch mit einem älteren Mann im Lokal, das weniger ein Gespräch war, es bestand eigentlich darin, dass sie abwechselnd Striche in eine bunte Zeitschrift setzten. Räume in der Wohnung erkundend, die endlos viele Räume und schlecht schließende bzw. sich schlecht öffnende Türen hatte. Der zarte Geruch von Schweiß ohne Anstrengung. (aufgew.)
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Atmosphären
Auf den Titelblättern der Zeitungen das Foto eines Mannes im mittleren Alter, etwas dünklere Haut, eine Warnung vor ihm, er sei gefährlich, große Gefahr ginge von ihm aus, explosive Gefahr.
Ich befand mich in einer Situation, in der Gäste erwartet wurden, war nicht die Gastgeberin, aber gehörte zu den lokal Ansässigen, zu jenen, die gegenüber einem Gefahrenpotenzial dann doch etwas stärkere Involviertheit spüren als Angereiste. Einige der Gäste waren bereits da, und es war in der begleitenden Metareflexionsspur völlig klar, dass der, von dem Gefahr ausginge, zu uns kommen würde, mitgebracht als Mitgast eines Gastes, so würde es kommen, wie denn auch anders.
So war es dann auch, es war natürlich J., ein umtriebiger Kollege aus einem anderen Land, der viele kannte, immer so interessante Leute dabei, der J. also, er brachte den mit. Ich sah das kommen, sah vom Fenster aus, wie sie auf der Straße näher kamen, der J. und der Typ. Ich wusste, wie die Situation sich wie in einem Filmdrehbuch weiter abrollen würde, fand mein Telefon nicht, um einen Notruf abzusetzen, nun, so würden die Dinge eben ihren Lauf nehmen.
Der Mitgast erwies sich dann als eloquenter und freundlicher Herr, man sprach so vor sich hin, und bald drehte sich die Situation, Zweifel kamen daran auf, dass diejenigen, die in ihm ein Gefahrenpotenzial sahen, recht hatten. Die Atmosphäre wurde dann eine, in der man ihn, den Mitgast, vor Behörden versteckte, in einer Allgemeinlage, in der überall etwas vor Behörden gerechtfertigt und versteckt werden musste. Dunkle Räume, die keine Räume waren, sondern sich in eine dunkle Atmosphäre hinein öffneten. An einem Tisch saß Helmut Qualtinger und musste einer Autoritätsperson gegenüber seine ungebührlich hohe Anzahl von 55 Fehltagen begründen, was ihm, alkoholisiert lallend, schwerfiel. (aufgew.)
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Der viel gefiederte Muskel
Der Physioknecht hatte das ganze Übungsprogramm noch einmal mit mir duchgesprochen; es war unser letzter Termin. Die Symptomatik, die ich ihm schildertee, würde eindeutig auf Instabilitäten hinweisen, die man nur bedingt, aber doch bis zu einem gewissen Grad in den Griff kriegen könne, durch Alltagsanpassung, Kraft-Ausdauertraining und verbesserte Koordination. Der Musculus multifidus, der viel gefiederte Muskel, zum Beispiel, wäre für die Stabilität der Wirbelsäule außerordentlich wichtig; er zieht sich tief drin an der Wirbelsäule entlang. Man müsse ihn trainieren, das könne man aber nicht direkt, sondern nur indirekt durch Koordinations- und Balanceübungen. Tandemstand, zum Beispiel, und wenn du den einigermaßen kannst, dann verschärfen, zum Beispiel durch Drehen und Wenden des Kopfes, und wenn du das draufhast, mach’s mit geschlossenen Augen. Ich bräuchte viel Geduld und Durchhaltevermögen, meinte der Physioknecht, aber ich wäre am richtigen Weg.
Die MS Vindobona ist ein Ausflugsschiff der DDSG Blue Danube, seit 1995 die Nachfolgegesellschaft der Ersten Donau Dampfschifffahrts Gesellschaft in der Personenschifffahrt. Das Schiff wird auf deren Website für seine außergewöhnliche Innenausstattung im Hundertwasser-Design angepriesen. Man kann sich dort auch ein 360°-Panorama reinziehen. Das Design hat eine recht angenehme Retro-Anmutung, eine Zeitkapsel, inklusive Zigarettenautomat mit Schillingpreisen.
Die Internetplattform Klingt.org für experimentelle Musik und Kunst hatte die geniale Idee, den ersten Teil der Feier ihres 25jährigen Bestehens auf der MS Vindobona abzuhalten. Also, wahrscheinlich gebührt die Ehre für die geniale Idee genau genommen Dieter Kovačič (dieb13), der Klingt.org initiierte und betreibt (den mit dem Wienerischen nicht Vertrauten sei noch erklärt, dass “org” auf Wienerisch “arg” heißt, hier eher im Sinne von “merkwürdig, verrückt, außergewöhnlich”, sagen wir einfach: weird).
Über knapp drei Stunden sollte die MS Vindobona von der Anlegestelle Reichsbrücke aus erst südwärts zum Kraftwerk Freudenau schippern, dann nordwärts bis nach Nußdorf und von dort wieder südwärts zur Reichsbrücke. Es gab zur Einstimmung am Achterdeck (so sagt man, glaube ich) eine klangliche Intervention von Beauchamp & Geissler, begleitet von eisigem Winterwind, dem Rauschen der graubraunen Donauwellen am Schiff und aufgeregtem Ausflugsgeplappere der vielen Gäste, eine schöne Menge an halb Bekannten und anderen freundlichen Wesen verschiedenster Altersstufen; manche hatten auch Kinder dabei. Im Vorfeld war klargestellt worden, es würde für die drei Stunden kein Essenscatering an Bord geben, nur Getränke (von ausnehmend aufmerksamen Ausflugsschiffkellnern an die Tische serviert). An den Tischen in Ober- und Unterdeck saßen dann die Kids, malten und zeichneten und spielten und knabberten Zeug aus mitgebrachten Tupperwaredosen. Ein Bub, geschätzt unter fünf, trug einen sehr kleidsamen türkisen Gehörschutz mit Elefantenlogo drauf (Schallwerk), während er — da spielten dann Bulbul ordentlich auf, am Bug des Unterdecks, innen — energisch mit seinen Farbstiften rote Flächen schraffierte.
Als wir also südwärts schipperten, mit Tee und Kaffee, Bier und Wein versorgt, begann Susanna Gartmayer mit ihrer Bassklarinette durch den Gang am Oberdeck zu gehen, das Instrument dröhnend, schmeichelnd, vibrierend, eskalierend, klappernd. Auf und ab ging sie, langsam und konzentriert, manchmal blieb sie stehen, und wenn so eine Bassklarinette direkt vor dir steht und energisch geblasen wird, da fährt dir das aber mindestens bis in den Musculus multifidus, ehrlich, sowas wirkt ungemein stabilisierend. Die Menschen waren recht still und hörten zu und schauten hin. Ich tue mir ja immer schwer so nahe heranspazierende Musiker*innen anzusehen, ihnen unverwandt zuzusehen, es fühlt sich auf unangenehme Weise distanzlos und aufdringlich an. (Und um ehrlich zu sein, es hätte auch eine Kontraaltklarinette sein können, die Gartmayer dem Vernehmen nach auch spielt; ich kenn’ mich da nicht so aus.) Jedenfalls: einen Klangraum so zu erleben, auf einem Schiff, mit Blicken auf ein vorbeiziehendes Draußen, das allmählich dunkler wird, das ist schon sehr speziell.
Es ging dann weiter, so ausflugsfahrtmäßig mit Geplapper und Gelächter, Herumstehen, Herumsitzen und immer wieder zwischendurch raus aufs Achterdeck, zu Wind, Wasserrauschen und Ausblick — die vertäuten Fischerboote an der dunklen Küste der Donauinsel, die sleeken neuen Hochaustürme am südlichen Westufer der Stadt, die Hotels der Marina. Wien ist ja bekannt dafür, dass die Stadt der Donau kein Gesicht zeigt, sondern eher den, äh, Rücken.
Bulbul spielten, wie gesagt, am unteren Deck, in gewohnt lauter und trockener und präziser Manier; es wurde dann recht heiß und, ehrlich gesagt, Bulbul schön und gut, aber das Achterdeck, die Stadt in der Nacht vorbeiziehen sehen, das hast du nicht so oft, also lieber wieder raus: vorbei an den jetzt in der Dunkelheit erleuchteten Neubauten, Hochhäusern, Türmen, an den angestrahlten Monumenten der Kaiserzeit und ihrer Ingenieurskunst (die Schemerlbrücke von Otto Wagner). Der Fluss, der auch bei einem beängstigenden Hochwasser die Stadt nicht mehr komplett überfluten kann, weil die Ingenieurskunst das Wasser mithilfe der künstlich angelegten Donauinsel, mit klug gebauten Entlastungsgerinnen und Wehren regulieren kann; Regionalzüge und U-Bahnen, die sich als Leuchtbänder am Ufer entlang und über Donaubrücken ziehen. Aus dem Dunkel taucht ein Lastkahn auf, der Kohle schippert, Autobahnbrücken, aber du hörst nichts, denn das Wasserrauschen und Bulbul übertönen viel.
Am Ende läuft dann noch Mats Gustafsson mit seinem Saxophon durch den Gang am Oberdeck, gewissermaßen auf Susanna Gartmayers Spuren. Dort entwickelt sich ein reizender Dialog zwischen den Geräuschen, die er seinem Instrument entlockt, entbläst, entkitzelt, und dem Kichern, Glucksen und Kreischen einiger Kinder an einem Tisch. Gustafsson, im kurzärmligen T-Shirt, spaziert dann tatsächlich noch heroisch aufs Achterdeck und bespielt die kalte Kulisse der dunklen Stadt an der Donau; ein ganz besonderer Moment.
S. sagt später, beim zweiten Teil der Feier in einem innenstädtischen Kellertheater, es wäre eine Utopie gewesen, da, am Schiff, mit all diesen Menschen und diesen Klängen. Ein utopischer Ort, der sich an der Stadt vorbeibewegte; ich denke an die stabilisierenden Muskeln, die du nicht direkt antrainieren kannst. Das Schiff nähert sich der Anlegestelle nach einer Wende von Süden her. Durch die angelaufenen Scheiben zeigt sich die angestrahlte Kirche am Mexikoplatz. Der Platz erhielt seinen Namen in Gedenken daran, dass Mexiko im März 1938 das einzige Land war, das vor dem Völkerbund offiziellen Protest gegen den gewaltsamen Anschluß Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich einlegte.
comment [2]